aus Franz Werfel "STERN DER UNGEBORENEN"
››Und wie entwickelte sich die deutsche Nation nach ihrer Niederlage? Das ist Frage drei. Soll ich die Frage drei wiederholen oder ist es dir lieber, wenn ich sie niederschreibe? ‹‹
››Und wie entwickelte sich die deutsche Nation nach ihrer Niederlage? Das ist Frage drei. Soll ich die Frage drei wiederholen oder ist es dir lieber, wenn ich sie niederschreibe? ‹‹
››Nicht nötig F.W.‹‹, winkte
er ab. Und wie um Zeit zu gewinnen, sang er vor sich hin: ››Die Deutschen, die
Deutschen ….. Was geschah nur mit den verdammten Deutschen?‹‹
Plötzlich glänzte sein Gesicht
pfiffig auf, und ich hörte ihm mit satirischer Übertreibung Schlagzeigen aus
damaligen Zeitungen rezitieren:
››Nun aber hör gut zu‹‹, begann
er, ››denn das hat’s wirklich gegeben: ›Der Kasseler Weltfreundschaftstag‹ -
›Allherzenssympathiewoche in Gera‹ - ›Allgemeines Judenabbittefest zu Halle an
der Saale‹ - ›Bund deutscher Atheistinnen zur Hingabe an das Leben in jeder
Form‹ - Dies und noch viel, viel mehr sehe ich vor mir und lese es in dem
frühesten Lexikonband meiner Vorerinnerungen. Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei
drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der
Gebrauch des Wortes ›Humanitätsduselei‹ kostete achtundvierzig Stunden Arrest
oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch,
was sie unter Humanität und Güte verstanden, äusserst ernst. Sie hatten doch
seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte
erschien ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit
bequemer als Heroismus und Rassenlehre. ‹‹
B.H. hielt die Augen
geschlossen. Ich fühlte, wie der Strom seiner Rückbeschwörungen immer dichter
und rascher wurde. Dann und wann unterbrach ich ihn durch eine kurze Bemerkung,
wie man es bei einem Medium tut. Oft schien er mich ganz vergessen zu haben, so
mächtig drängte jene verschollene, fernste Vergangenheit an die Oberfläche.
››Ich erinnere mich‹‹, fuhr er
fort, ››an das berühmte Buch eines deutschenhassenden Deutschen, eines damals
weitverbreiteten Alibi-Typs. Einen Augenblick, wart einmal, unterbrich mich
nicht, der Autor hiess – halt ich hab’s – er hiess Carl Egon (von) Ausfaller.
Den Titel des Buches könnte ich mit einiger Anstrengung auch entziffern, aber
es ist besser, meine Kräfte für Wichtigeres aufzusparen. Das Buch erschien,
dessen bin ich sicher, noch vor 1960. Ausfaller behauptete darin, es gäbe zwei
Arten von Deutschen: ›Die Heinzelmännchen‹ und ›die Wichtelmännchen‹. Die
Heinzelmännchen waren gute, hilfreiche, unermüdlich fleissige Arbeiter, die
überall, ob erwünscht oder unerwünscht, hartnäckig auftauchten, um ihre Schuld
gutzumachen. Hatten zum Beispiel irgendwo in Europa abends die Arbeiter eine
Fabrik verlassen, so stellten die Heinzelmännchen nächtlicherweise sich ein und
schufteten unbemerkt bis ins Morgengrauen, wenn sie auch die Gewerkschaften des
betreffenden Landes damit rasend machten. Sie gingen jedermann auf jede Weise
zur Hand und verlangten keinen anderen Lohn als ein bisschen Verzeihen für das,
was man dem deutschen Volke zur dauernden Schande anrechnete. Mir selbst sind
an manchen Orten eine Menge solcher Heinzelmännchen begegnet, und sie haben
mich manchmal gerührt, obwohl ich nicht verzieh. Sie waren die Erfinder der
undankbaren Ethik der ›selbstlosen Zudringlichkeit‹. Zur Erholung hielten die Gebildeten unter den
Heinzelmännchen philosophische Vorträge an Volkshochschulen, in
protestantischen Kirchen und sogar an Reformsynagogen, wobei ihr eintöniges
Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war. Ohne Pflicht ging’s nicht, wie ja die
deutsche Grundauffassung vom Leben in der ›Anbetung des Unangenehmen‹ bestand.
Sie waren, mit einem Wort, echte Schafe im Schafspelz. Da sie das aber krampfhaft waren, glaubte es
ihnen niemand, und man hielt sie für Wölfe. Aus diesen Heinzelmännchen bestand
der grösste Teil der deutschen Nation.
Der andere, viel kleinere Teil, die Wichtelmännchen, spielte eine weit
interessantere Rolle. Sie waren keine guten, sondern böse Geister.,
unbekehrbare Kobolde in hunderterlei Verkleidungen. Niemals erschienen sie in
ihrer märchenhaften Urform, als bucklige Zwerge nämlich mit weissen
Ziegenbärten. Dazu waren sie zu rassenstolz. Sie zogen, wenn’s nur halbwegs
ging, die Erscheinungsform von nordischen Recken vor, konnten aber trotzdem,
selbst dann, wenn sie lang und hager waren, den Gesichtsausdruck hämisch
kleingläubiger Zwerge, die sich stets provoziert fühlen, nicht ganz verwischen.
Sie dienten allen Herren und allen Ideen der Welt, denn das echte
Wichtelmännchen hielt alle Ideen und alle Herren für auswechselbar, da es ja
niemals eine eigene Idee gehabt hatte ausser dem Protest. Selbst jener
Geheimbund, den sie ›Gräberboten‹ nannten oder die ›weissen Vampire mit den
roten Lippen‹, der Möchtegernschrecken Europas vor 1950, war ein blankes
Plagiat an der italienischen Maffia von 1848 und an den amerikanischen
Schauerfilmen des finstersten Altertums, obwohl die Wichtelmännchen auch hier
wie überall die Originalität durch Übertriebenheit zu ersetzen suchten: denn
›Gräberbote‹ durfte nur werden, wer
seinen linken Arm abhackte und durch eine Prothese ersetzte, in die eine
elektrische Batterie eingebaut war, die tödliche Schlage auszuteilen vermochte.
Die Wichtelmännchen, gleichgültig wo und wem sie dienten, waren die ersten, die
das unterirdische Leben erfanden, dessen Vollendung du in der heutigen mentalen
Kultur vor Augen hast. Sie unterwühlten kraft ihrer frenetischen Energie und
inhaltslosen Opferbereitschaft die Haupt- und Grossstädte aller Nationen. Mit
ihren wissenschaftlich ausgeklügelten Labyrinthen. Und das taten sie, noch
während die siegreichen Mächte ihr Land entwaffnet und besetzt hielten, und
sie, die Wichtelmännchen, oberhalb der Erde von den Heinzelmännchen nicht zu
unterscheiden waren. Im übrigen war der Charakter der Heinzelmännchen so
schwach, dass sie der Neigung Wichtelmännchen zu werden, oft nicht widerstehen
konnten. Die Wichtelmännchen sind auch die Erfinder der unterirdischen
Denkmäler gewesen, deren eines du noch heute sehen konntest. Hunderte dieser
Denkmäler errichteten sie in ihren geheimnisvollen Labyrinthen einem Abgott mit
Namen Heiltier, einem Scheusal, das nicht einmal ein echtes deutsches
Wichtelmännchen, sondern ein schmutziges Grenz- und Mischwesen gewesen sein
soll…..‹‹
››Der Name ist nicht richtig,
B.H.‹‹ war ich gezwungen einzuwerfen.
››Und wie ist der richtige
Name, F.W.?‹‹
››Schade, soeben habe ich ihn
auf der Zunge gehabt …..‹‹
››Mag sein‹‹, überlegte B.H.,
››er hiess Hiltier. Sie sehnten sich nach der ›Volksgemeinschaft‹ zurück, einer
automatischen Lebensform, die er bei ihnen eingeführt hatte, wo jedermann
Denunziant und Denunzierter, Folterknecht und Gefolterter, Henker und
Hingerichteter gleichzeitig sein durfte. Sie errichteten diesem Hiltier nicht nur
Denkmäler, sondern schrieben noch nach Jahrzehnten nach seinem Verschwinden an
die Wände ihrer Bedürfnisanstalten ›Heil Hiltier‹. Das war ein magischer
Wiederholungsakt. Denn durch denselben Brauch, die ammoniakwürzigen
Pissoirwände mit ›Heil Hiltier‹ zu beschmieren, hatten die Wichtelmännchen
vorher die Macht über die Heinzelmännchen und beinahe die Weltherrschaft errungen….‹‹
››Und gelang es den
Wichtelmännchen beim dritten Mal, B.H.? …. Das wäre Frage vier…..‹‹
››Davon habe ich keine
persönliche Erfahrung‹‹, kam die rasche Antwort. ››Ob sie’s erreicht haben oder
nicht, ist auch ganz und gar unwichtig, denn als ich das nächste Mal ins
Planetenleben trat, da gab es keine Deutschen mehr, sondern nur noch die
deutsche Sprache, die da und dort, besonders unter Farbigen, gesprochen wurde,
aber Mödlinger Sprache hiess. Mödling soll ein Vorort von Wien gewesen sein.‹‹
››Das sind allerdings
Aspekte‹‹, meinte ich, ››von denen ich mir nichts habe träumen lassen. Und was
geschah mit all den kleinen Völkern, B.H…..? Das ist die fünfte Frage, wenn es
dich nicht allzusehr hernimmt.‹‹
››Die kleinen Völker‹‹,
entgegnete er, ohne nachzudenken,›› störten noch einige Zeit, dann lösten sie
sich in den sogenannten Grundnationen auf. Leider, denn manche unter den
kleinen Völkern waren sympathischer und nützlicher als die Grundnationen.‹‹
››Und die europäischen
Grundnationen?‹‹ Ich schmuggelte das als Unterfrage in das Interview.
››Die europäischen
Grundnationen‹‹, erwiderte er, ››verschwanden. Nicht nur die Deutschen, sondern
ebenso die Franzosen, die Slawen, und zuletzt sogar die Engländer.
Seltsamerweise bestand das grossbritannische Weltreich noch, als es keine
wirklichen Engländer mehr gab. Am längsten hielt sich eine Enklave des
italienischen Volkes, und zwar dadurch, dass Rom als Thronsitz der katholischen
Kirche sich bisher als unvergänglich erwies. Den Grundnationen Europas erging
es aber so, wie es den alten Wanderstämmen ihrer Väter ergangen war, aus denen
sie während des römischen Altertums entstanden sind. Sie vermischten sich zu
einer grösseren Einheit, der ältesten Kontinentalnation der Alten Welt. Die
nationalistischen Weltkriege vorher waren nichts anderes als letzte Zuckungen
eines überalterten provinzialen Tribalwesens. Die geeinigte Kontinentalnation
Europas aber versank in ein langes Zeitalter der Sterilität, während die
Kultursonne über ganz neuen Völkern des Ostens und Westens aufging, von denen
wir damals noch kaum gehört hatten…… Welche Grundnation aber, glaubst du, ist
es gewesen, die als erste beim psychochirurgischen Zentralamt den Antrag auf
allgemeine Extraktion des Nationalgefühls gestellt hat?‹‹
››Die Franzosen vielleicht‹‹,
zögerte ich, nachdem sie mit Hilfe Jeanne d’Arcs und der Engländer dieses Nationalgefühl eingeführt haben.‹‹
››Im Gegenteil‹‹, lachte er,
››die Deutschen. Die endgültige Vernichtung der Seuche des Nationalismus ist
und bleibt ein Verdienst der Deutschen, nachdem es ihnen bis dahin sieben bis
vierzehnmal nicht gelungen war, durch Macht beliebt zu werden.‹‹
››Das hätte ich erraten müssen,
B.H.,‹‹ schämte ich mich. ››Natürlich können es nur die Deutschen gewesen sein,
die zuletzt gegen den Protest protestierten‹‹.
››Die einfachsten Antworten
sind zumeist die schwierigsten, F.W., ‹‹ tröstete er mich.
››Und die Juden? ‹‹, fragte
ich. ››Ich nehme an, dass dies die Frage Nummer sechs ist.‹‹
››Die Juden‹‹, gab er zur
Antwort, ››bemühten sich seinerzeit mit grösster Gewalt, auch nur ein kleines
Volk unter kleinen Völkern zu sein, doch durften sie sich gemäss dem göttlichen
Heilsplan trotzdem nicht auflösen.‹‹
››Die Juden bestehen also
weiter‹‹, sagte ich, ››genau wie die katholische Kirche? ‹‹
Er sah mich aufmerksam an, ehe
er knapp erwiderte:
››Lassen wir das. Du wirst
vermutlich Gelegenheit haben, diese Phänomene selbst zu erforschen und sie
werden dir unglaubwürdig genug erscheinen.‹‹.
ZITAT AUS: STERN DER UNGEBORENEN
(Rororo, 6. Auflage, 2010, S. 210-215), beendet 1945 und veröffentlicht 1946 nach Werfels
Tod.